Paul Riggenbach (Hamburg):

Demokratisierung oder Entfremdung? Empirische Daten zur aktuellen Musikentwicklung
 
Musik wird heute anders erlebt als früher; Musik ist jedem Menschen zugänglich. Heute kann der durchschnittliche Bürger mehr Musik hören als früher nur wenige Auserwählte. Dadurch, daß Musik medial vermittelt wird, wird sie zum Allgemeingut; Kunst wird demokratisiert, indem Kunstformen, die früher nicht populär waren, zugänglich werden. Aus neuen medialen Formen, aus neuen technischen Möglichkeiten der Präsentation von Kunst entstehen neue Kunstformen. Überraschenderweise wird dies von denjenigen, die sich wissenschaftlich und pädagogisch mit Musikkultur befassen, nicht mit Begeisterung aufgenommen. (Müller 1993, 61)

Je verdinglichter die Musik, um so romantischer klingt sie den entfremdeten Ohren. (Adorno 1991, 22)

In meiner empirischen Untersuchung "Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft" suchte ich gar nicht nach Antworten auf die Frage "Demokratisierung oder Entfremdung?". Vielmehr wollte ich ganz allgemein herausfinden, welche Funktionen Musik heute übernehmen kann, wie diese Funktionen zusammenhängen und wie sie sich zur Zeit verändern. Dazu führte ich Interviews, analysierte die Struktur von Hits aus den Jahren 1965 bis 1995 und bezog Untersuchungen aus den Bereichen Produktion und Distribution von Musik ein. Überraschenderweise, gewissermaßen als Nebeneffekt, stieß ich auf Zusammenhänge, die die Frage nach Demokratisierung oder Entfremdung empirisch beantworten.

Die Analyse der 52 qualitativen Interviews führte vorerst zu folgenden Funktionen, die Musik übernehmen kann:

Funktion 1 Musik ist eine Form menschlicher Kommunikation, die primär der Mitteilung von Gefühlen dient
Funktion 2 Musik beeinflusst Gefühle
Funktion 3 Musik beeinflusst (die Bereitschaft zu) Handlungen
Funktion 4 Musik ist Anlass zu intellektueller Auseinandersetzung
Funktion 5 Musik beeinflusst den Realitätsbezug der Menschen
Funktion 6 Musik hat Anteil an der Ausbildung von Identität
Funktion 7 Musik ist Unterhaltung

Es stellte sich heraus, dass jede dieser Funktionen innerhalb mindestens einer Dimension variieren kann. Für die Funktion 2 beispielsweise kann die Beeinflussung der Gefühle aus der Sicht einer rezipierenden Person mehr oder weniger
· aktiv vs. passiv (Dimension 2.1)
· (vorhandene Gefühle) verstärkend vs. (ihnen) entgegenwirkend (Dimension 2.2)
· konditioniert vs. erinnerungsunabhängig (Dimension 2.3
· körpergebunden vs. körperlosgelöst (Dimension 2.4)
· bewusst vs. unbewusst (Dimension 2.5)
verlaufen.

Sowohl die Analyse der Interviews als auch diejenige der musikalischen Strukturen zeigte, dass sämtliche Dimensionen historisch betrachtet zu einem der Pole tendieren. In unserem Beispiel der Funktion 2 sind es die rot gefärbten Pole (passiv, entgegenwirkend, konditioniert, körpergebunden, unbewusst). Die Gemeinsamkeiten dieser Tendenzen liegt in der zunehmenden Fremdbestimmung der Gefühle. Nicht nur die Dimensionen der Funktion 2, sondern sämtliche Dimensionen tendieren zu einem der Pole. Die Gemeinsamkeit liegt aus der Sicht einer rezipierenden Person in der zunehmenden Entfremdung, deren Teilaspekt in der Fremdbestimmung liegt und die dreifach bestimmt ist: Entfremdung des Menschen von sich (insbesondere seinen Gefühlen), seinen Mitmenschen und seiner Umgebung.

Damit bin ich bei meiner Ausgangsfrage angelangt. Die empirischen Daten sprechen für die Entfremdungsthese und widersprechen der Demokratisierungsthese. Zwar haben die Menschen immer mehr und verbesserten Zugang zu Musik. Aber die Kehrseite, die im Eingangszitat übersehen wird, dominiert unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen: Die Musik hat immer mehr und besseren Zugang zu den Menschen.

Aus der Perspektive der Produktion und Distribution von Musik ergibt sich: Die Ursache für die zunehmende Entfremdung liegt darin, dass Musik immer mehr zu einer Ware wird, deren Tauschwert immer mehr über den Gebrauchswert dominiert. Ein wichtiger Aspekt dabei: Musik wird immer mehr zu Umgebung für Werbung (happy program, buying mood, selling atmosphere), was nicht nur deren gesellschaftliche Funktion betrifft, sondern auch deren immanente musikalische Struktur.

Als versöhnlicher Abschluss soll nicht verschwiegen werden, dass Musik auch Mittel gegen Entfremdung sein kann, indem sie diese bis zu einem gewissen Grad zu transzendieren vermag.

Literatur
Adorno, Theodor W. (1991). Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In Ders.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (7. Aufl.; orig. 1938).

Müller, Renate (1993). Hits und Clips. Erklärungsmodelle zur Jugendkultur. In Musik & Bildung, Nr. 1, Mainz: Schott.

Riggenbach, Paul (2000). Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft. Eine Untersuchung zwischen Empirie und Theorie. Marburg: Tectum.
 

Dr. Paul Riggenbach
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