Peter Imort (Kassel)

"... Erkundung von Echos einer vergangenen Welt."
Uri Caines Adaption des 3. Satzes der 1. Symphonie von Gustav Mahler[1]

Der amerikanische New Yorker Jazz-Pianist und Komponist Uri Caine ist dafür bekannt, gelegentlich die Grenzen seines Metiers zu überschreiten, und das erfolgreich: Mit dem Mahler-Projekt "Urlicht"[2]  überzeugte er auf dem Toblacher Mahler-Festival 1998 sowohl Urtext-orientierte Mitglieder der Musikologen-Jury als auch angereiste Jazz-Fans und wurde nicht nur für sein Label Winter & Winter zum kommerziellen Überraschungserfolg. Es war nicht das erste große Projekt, in dem sich Caine von seiner Position aus einigen abendländischen Großmeistern notierter Musik näherte. In der zweiten Hälfte der 90er projektierte er außer Mahler noch Wagner, Schumann und Bach.

Caine nennt seine Arbeiten Adaptionen. Der Begriff "Adaption" gehört im deutschen Sprachgebrauch zum gängigen Bestand des weiten Wortfeldes "Bearbeitung", dem begriffliche Unschärfen und Überschneidungen immanent sind (vgl. zum Wortfeld "Bearbeitung" Schneider 1984 und Schröder 1994). Im englischsprachigen Raum bezeichnet "Adaptation" eher die Umarbeitung einer vorhandenen Komposition mit dem Ziel, sie einer aktuellen Stilistik anzupassen. Wodurch ist die Adaptionspraxis des Uri Caine gekennzeichnet? Untersuchungsgegenstand ist eine Musik, die im Kontext des Mahler-Projekts von 1997 entstand: Caines Version des 3. Satzes von Mahlers 1. Symphonie, manchmal auch als "Todtenmarsch nach Callots Manier" bezeichnet[3]. In der folgenden grafischen Audio-Visualisierung erscheinen einige Merkmale hervorgehoben:

Vergleich der Form/Dynamik von Mahler und Caine
Die audio-visuellen Grafiken können und sollen die Detailanalyse[4] nicht ersetzen, erkennbar sind jedoch z.B. Äquivalenzen in der Satzstruktur, Verschiebungen in der formalen Dreiteiligkeit beider Verläufe (die "Lindenbaum"-Episode[5] entfällt bei Caine) oder Differenzen in der dynamischen Entwicklung. Nur ein zentrales Ergebnis der vergleichenden Analyse soll hier hervorgehoben werden: Caine lässt eine neue Form entstehen, in der die Improvisation ebenso zentral wird wie das Komponierte. Mahler auf amerikanisch, gespielt von Künstlern, die sich in beiden Kulturen - in der oral und notiert tradierten - auskennen, allerdings mehr im Jazz verwurzelt sind. Andererseits bleibt Caine dicht an der Partitur, mit nur wenigen Klang-Verfremdungen. Er setzt Angaben der Partitur um: kammermusikalisch, rau, solistisch, das Gegenteil von werktreu.

Ohne Zweifel übt sich Uri Caine in Ansätzen zu neuen Ausdrucksformen. Zu hören ist eine Annäherung der vorzugsweise mündlich tradierten Kulturform Jazz an notierte Musik, an Werk-Musik, aus der Perspektive des amerikanisch-jüdischen Jazz-Pianisten Uri Caine. Dabei geht er nicht zimperlich mit Mahlers Partituren um, aber nicht respektlos. Seine Adaptionen sind keine Gimmicks, keine Spielereien. Damit korrespondieren Caines oft persönliche Statements zu seinen Adaptionen vor dem Hintergrund seiner individuellen Erfahrungen, seiner Sozialisation, seinem historischen Verständnis (cf. Schaal 2000). Ausgangspunkt meines Tagungsbeitrags war die Ambivalenz schräger Perspektiven: Sie können verzerrend schief, grotesk, subjektiv, misstönend sein. Aber auch: sie ermöglichen Perspektivenwechsel festgefahrener Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Caines schräger Blick erfordert Perspektivenwechsel. Sie werden so zu einer Frage.

Literatur
Floros, Constantin (1985). Gustav Mahler. Bd.3. Wiesbaden.

Schaal, Hans-Jürgen (2000). Gespräch mit Uri Caine. In Neue Zeitschrift für Musik, H.4, S. 62-64.

Schneider, Ernst Klaus (1984). Original und Bearbeitung. Frankfurt.

Schröder, Gesine (1994). Bearbeitung. In L. Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1 (Sachteil), Kassel u.a., Sp. 1321ff.

Sponheuer, Bernd (1992). Dissonante Stimmigkeit. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie zum dritten Satz der Mahlerschen Ersten. In H. Danuser (Hg.), Gustav Mahler, Darmstadt, S. 159-190.

Tibbe, Monika (1971). Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniesätzen Gustav Mahlers. München-Salzburg.
 

Anmerkungen

1) Mein Tagungsbeitrag über "Uri Caines schräge Archäologie" erscheint hier auf einen Aspekt fokussiert: Im Zentrum steht Uri Caines Adaption des 3. Satzes der 1. Symphonie von Gustav Mahler.

2) Das Projekt ist auf zwei CD-Produktionen bei Winter & Winter veröffentlicht: 1997 als Studioaufnahme Gustav Mahler/Uri Caine: Urlicht (910 004-2) und zwei Jahre später als Live-Mitschnitt vom Gustav Mahler Festival Toblach 1998 (The Uri Caine Ensemble – Live in Concert; 910 046-2).

3) So z.B. im Programm der von Mahler nach der Budapester Uraufführung 1889 dirigierten Hamburger und der Weimarer Aufführung. Die komplizierte, manchmal widersprüchliche Quellenlage zur Programmatik in Mahlers 1. Symphonie findet sich dokumentiert bei Floros 1985, S. 25f.

4) Differenzierte Analysen zum dritten Satz der 1. Symphonie von Gustav Mahler liegen vor z.B. von Sponheuer 1992 und Tibbe 1971, S. 75-85.

5) Vgl. zu Faktur und Funktion der "Lindenbaum"-Episode in Mahlers Symphonie-Satz Tibbe 1971, S. 75ff.
 
 

Dr. Peter Imort
Universität Gesamthochschule Kassel
FB 03 Fachrichtung Musik
Heinrich-Plett-Str. 40, 34109 Kassel
Email: Peter.Imort@t-online.de